Die Geheimnisse des Kapitelsaals

Es war ein großer Plan: am Dienstag schließen wir die beiden offenen Fläche ab, haben alles geputzt und dann wird jedes Planum und jedes Profil fotografiert. Robin hatte in den vergangenen Tagen schon prima Vorarbeit geleistet und jetzt war Finale.
Was mich bisher überrascht hat, war, dass es fast keine Eingrabungen unter dem Fußboden des Kapitalsaals gab. Offensichtlich hatten die Leute zu allen Zeiten wenig Lust, in den steinharten Boden vorzudringen. Aber es gab ja etwas: zunächst den Graben einer Wasserleitung, die den Kapitelsaal durchquerte. Sollte die noch älter sein, als die ohnehin schon richtige alte urkundliche Erwähnung einer Wasserleitung von Hainichen ins Kloster aus dem Jahr 1186?
Eine ganz besondere Grube lag auch an der Westwand des Kapitelsaals (Abb.3), die fiel schon durch ihre Verfüllung auf, nicht der sonst übliche dunkelgraue Humus, sondern brauner Lehm war eingefüllt. Und dann kommen aus der Grube doch tatsächlich ein paar Scherben zu Tage, die wahrscheinlich in die Bronzezeit gehören! Wir haben damit jetzt erstmals eine schon früher immer wieder vermutete urgeschichtliche Nutzung des Bergsporns erfassen können! Die eigentlich unbequeme Lage auf dem Berg zeigt, dass die Bronzezeitler nicht nur zum Spass hier oben waren. Sicher haben die den Berg als Befestigung genutzt und sich hier im wahrsten Sinne des Wortes verschanzt.
Eine Grube in der Südostecke des Kapitelsaals war aber ebenfalls auffällig. Sie war ganz locker verfüllt, enthielt viel Bauschutt aber auch sehr viele Tierknochen, meist von Geflügel und einiges an Keramik. Mehrere Scherben eines Steinzeugkruges datieren die Verfüllung der Grube dann auch sehr gut in das späte 14. oder den Beginn des 15. Jh. Warum hat jemand in der Ecke des Kapitelsaals ein Loch gemacht? Natürlich war sofort die Vermutung eines – natürlich später wieder ausgeräumten – Schatzversteckes da. Immerhin haben die Hussiten um 1430 das Kloster besucht – und das nicht in friedlicher Absicht! Es traf sich nun gut, dass die hier befindliche Mauerecke noch etwas zurückgebaut werden musste, um vor der Wiederverfüllung noch endgültige Klarheit über die Bauabfolge im Kapitelsaal zu bekommen.
Bei der Errichtung des von uns vorgefundenen Bauzustandes waren nämlich vor allem vier bereits vorhandenen Wände des Raumes Sockel vorgemauert worden, die sehr wahrscheinlich als steinerne Sitzbänke für die Mönche dienten, die sich hier jeden Tag versammelten. Denn „Kapitelsaal“ kommt nicht von einem Kapitel welches sich hier trifft, sondern von einem hier täglich verlesenen Kapitel aus der Heiligen Schrift. Damit das Wort Gottes in die Welt schallen konnte, verfügte der Kapitelsaal nicht über Türen, sondern war – auch in Posa – über einen großen Bogen zum Kreuzgang hin geöffnet.
Und nun stellte sich heraus, das die Grube in der Südostecke des Raumes unter der gemauerten Steinbank weiterlief. Damit war klar: die Steinbänke sind nicht romanisch, sondern wurden erst frühestens im späten 14. Jh. eingebaut.Lediglich auf der Südseite des Raumes gab es schon in der Romanik eine gemauerte Sitzbank. Die unerwartete Beobachtung in der Südostecke konnte nicht ohne Folgen auf die bisher sicher geglaubte Datierung des aus großen Sandsteinplatten verlegten Fußbodens und sogar der vier Säulenfundamente im Raum bleiben. Da alles miteinander in Zusammenhang steht sind auch diese Bauglieder erst in gotischer Zeit errichtet worden. Daraus widerum ergibt sich für unsere Wasserleitung, dass es sich wohl um die erwähnte Leitung von 1186 handelt. Bis zum gotischen Umbau des Kapitelsaals blieb diese wahrscheinlich intakt, da der Fußboden aber erheblich abgetieft wurde, musste sie verlegt werden… Wahrscheinlich führte die neue Leitung nun im Süden um die Klosterbauten herum.
Aber wozu das Loch in der Südostecke? Beim sorgfältigen Herausnehmen der Grubenverfüllung löste sich das Rätsel: vor uns lagen die Reste einer alten Grabgrube! Das Skelett hatte man spätestens beim Umbau des Kapitelsaales entnommen, vorher war das Grab schon durch die Mauern des 11. und 12. Jh. geschnitten worden. Das besondere an dem Grab ist nicht nur sein hohes Alter, sondern auch seine Ausführung. Man hatte im Westen der Grabgrube eine kastenartige Erweiterung in den Boden gestochen – eine sogenannte Kopfnische (Abb.4). Eine besondere Behandlung erfuhr die Grabgrube darüberhinaus dadurch, dass die Innenseiten mit einem Kalkputz überzogen worden waren. Sensationell! Gleich nördlich von unserem Kopfnischengrab kam eine weitere Grube zu Tage, bei der es sich sicher auch um ein leeres Grab handelt. Auch hier hatte man den Leichnam offenbar schon im 11. Jh. sorgfältig entnommen um eine Mauer mitten durch die Grabgrube zu errichten.
Mit diesen beiden Gräbern können wir nun endlich zwei Bestattungen nachweisen, die zur Burgkirche des 10. Jh. gehören! Ganz sicher waren hier hochrangige Leute beigesetzt worden, vielleicht einer der Burgherren selbst. Lange hatte ich auf diese Gräber gewartet. Es musste sie doch irgendwo geben! Keine Kirche ohne Bestattungen! Es zeigte sich wieder einmal: man muss wirklich jeden Stein umdrehen und bevor nicht alles wirklich ausgegraben ist, ist man vor keiner Überraschung sicher!
Dann wurde es noch richtig anstrengend: Alles was in unseren beiden Flächen offenlag musste dokumentiert werden. Dazu werden Messpunkte vermarkt, eingemessen und dann wird alles fotografiert. Das klingt nicht so schwer. Gestern aber schien ununterbrochen die Sonne und verärgerte uns mit Schlagschatten überall. Und dazu war es noch richtig warm! Nun musste mit einer Plane gearbeitet werden, die für entsprechenden Schatten sorgte. Bevor aber das anstrengende Überkopfhalten der Verdunklung begann, konnten wir uns mit Rostbratwurst stärken – lecker!
Schließlich war um 19.00 Uhr alles geschafft. Zwei Flächen sind nun vollständig ausgegraben und schon in zwei Wochen werden wir die Mauern der Erde zurückgeben. Ob in zweihundert Jahren noch einmal jemand nachschaut?

Abb.1: Orthofoto Kapitelsaal. Zu erkennen sind die vier Pfeilerunterlagen und partiell erhaltene Fußbodenplatten. (Foto: Philipp Baumgarten, Maurizio Paul)

Abb.2: Eingrabung in der Süd-Ost-Ecke des Kapitelsaals. (Foto: Holger Rode)

Abb.3: Grube an der Westwand des Kapitelsaals (Foto: Holger Rode)

Abb.4: Rest der Kopfnische. (Foto: Holger Rode)