Schon lange sucht man vergeblich nach dem „steinernen Haus“, das Mönch Boso der Überlieferung nach um 950 in der Nähe von Zeitz errichten ließ – ein Rätsel, das Historiker, Archäologen und Heimatforscher seit Jahrhunderten beschäftigt. Bislang konnte jedoch niemand den exakten Standort zweifelsfrei bestimmen. Im September 2024 legte Dr. Inge Loebel eine neue Interpretation des historischen Sachverhalts vor, die hier kritisch betrachtet werden soll.
Worum es im Text geht
Dr. Loebels Untersuchung thematisiert die historische Bedeutung der Kirche in Theißen und deren mögliche Verbindung zu Mönch Boso, einem zentralen Akteur der Christianisierung im 10. Jahrhundert. Boso, Mitbegründer des Bistums Zeitz, soll laut historischen Überlieferungen ein „steinernes Haus des Herrn“ errichtet haben, das Dr. Loebel mit der heutigen Kirche in Theißen identifiziert. Sie stützt ihre These auf architektonische Merkmale wie romanische Fenster und die als ältesten Teil der Kirche geltende Nordmauer sowie auf historische Dokumente, insbesondere die Schenkungsurkunde Kaiser Ottos II. aus dem Jahr 976.
Ein zentrales Element ihrer Argumentation ist die linguistische Interpretation des Begriffs „saltus“ in mittelalterlichen Texten. Dieser kann sowohl „Wald“ als auch „Landgut“ oder „Weideplatz“ bedeuten, was den Standort des steinernen Hauses Bosos in Theißen plausibel erscheinen lassen soll. Zudem verweist sie auf die Einbettung Theißens in ein Netzwerk frühmittelalterlicher Dörfer und Kirchen, deren Entfernungen entlang typischer Marschrouten angeordnet seien.
Dr. Loebel argumentiert, dass Theißen bereits früh eine zentrale christliche Rolle spielte, gestützt durch die Existenz einer der ältesten Glocken Deutschlands und Berichte über unterirdische Gänge zwischen dem Markt und der Kirche. Sie deutet an, dass die ursprüngliche Umgebung möglicherweise ein heiliger slawischer Ort war, den Boso christianisierte. Konkrete archäologische Nachweise für den Standort des „steinernen Hauses“ fehlen jedoch, da keine gezielten Ausgrabungen oder baulichen Beweise vorliegen.
Die Autorin schließt mit der These, dass die Kirche in Theißen das von Boso gegründete „Haus des Herrn“ sei und seit über 1000 Jahren als Gotteshaus dient. Trotz zahlreicher Umbauten und Ergänzungen sei der Kernbau bis heute erhalten.
Kritische Analyse
Die 16-seitige Schrift versucht, anhand von sechs „Fakten“ darzulegen, dass das in der Chronik Thietmars von Merseburg genannte „steinernen Haus“ des Boso (968–970 Bischof von Merseburg) in Theißen zu verorten sei. Eine grundlegende methodische Schwäche besteht darin, dass der Bau der Kirche in Theißen durch Boso nicht hergeleitet, sondern bereits zu Beginn als Faktum präsentiert wird.
Die Frage nach dem Standort der von Boso gegründeten Kirche beschäftigt die Forschung seit mindestens 150 Jahren. Das von Dr. Loebel zitierte Textfragment aus Thietmars Chronik ist der einzige bekannte Hinweis auf einen Kirchenbau in der Nähe von Zeitz im dritten Viertel des 10. Jahrhunderts. Die Übersetzung von „saltus“ als „Wald“ ist in der wissenschaftlichen Praxis anerkannt, und Loebels Kritik an Trillmichs Standardübersetzung bleibt unbegründet.
Die in der Ausstattungsurkunde des Zeitzer Bistums von 976 genannte Siedlung „buosenrod“ könnte eine von Boso gegründete Rodung bezeichnen, ist aber keinesfalls sicher mit Theißen gleichzusetzen. Im Zeitzer und Altenburger Gebiet existieren mehrere „buosenrod“-Orte, darunter eine Siedlung im heutigen Altenburger Stadtgebiet. Die Lokalisierung des „steinernen Hauses“ erfordert daher zuerst eine eindeutige Identifikation von „buosenrod“. Erst danach könnte untersucht werden, ob an diesem Ort ein Kirchenbau aus dem dritten Viertel des 10. Jahrhunderts nachweisbar ist.
Alternative Lokalisierungsvorschläge
Bisher wurden verschiedene Standorte für „buosenrod“ vorgeschlagen:
Posaer Berg bei Zeitz: Bereits 1536 in der Chronik von Paul Lange erwähnt. Diese These wurde jedoch 1994 von Richter/Rode kritisch hinterfragt. Aktuelle Grabungen des Landesamts für Archäologie widerlegen diese Annahme.
Michaeliskirche in der Zeitzer Oberstadt: Favorisierte These vieler Forscher, aber bauhistorische und archäologische Untersuchungen erbrachten keine Hinweise auf einen Kirchenbau des 10. Jahrhunderts.
Kollegiatstiftskirche auf dem heutigen Schloss Moritzburg: Beruht auf Überlegungen des Verfassers und wird in einem Tagungsband zur Ottonentagung 2022 erörtert.
Eine Lokalisierung in Theißen wurde bisher nicht diskutiert. Die Schlussfolgerung, dass die Nennung von „buosenrod“ an neunter Stelle in der Urkunde von 976 automatisch nach Theißen führt, ist nicht zwingend. Auch die Deutung des Namens „buosenrod“ als „Rodung des Boso“ ist unstrittig, doch muss es sich dabei nicht um den späteren Bischof von Merseburg handeln.
Kritik an den Argumenten von Dr. Loebel
Theißener Glocke („Fakt 2“): Ihre Datierung in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts hat keinen nachweisbaren Bezug zum Kirchenbau Bosos. Nach Dehio (1999) ist die Bronzeglocke erst um 1200 zu datieren.
Bischöfliches Gut in Theißen („Fakt 3“): Die Annahme, dass das Gut seit der Bistumsgründung bestand, ist spekulativ.
Unterirdische Gänge: Berichte darüber sind eher dem Volksglauben zuzuschreiben.
Romanischer Taufstein („Fakt 4“): Keine gesicherte Datierung in das 10. Jahrhundert.
Namensherkunft „von Bosenitz“ („Fakt 5“): Die Ableitung aus dem „buosenrod“ des 10. Jahrhunderts ist fraglich.
Bauhistorische Nachweise („Fakt 6“): Die von Dr. Loebel vorgeschlagene quadratische Rekonstruktion eines Steinbaus passt nicht zu einem Kirchenbau des 10. Jahrhunderts.
Schlussbetrachtung
Dr. Loebel entwickelt eine interessante, aber nicht ausreichend belegte These. Es fehlen stringente Argumente, um eine Neubewertung der bisherigen Forschung zur Lokalisierung von „buosenrod“ und dem „steinernen Haus“ Bosos zu rechtfertigen. Somit bleibt das Rätsel um den Standort weiterhin ungelöst.
Literatur:
Richter /Rode 1994
Jörg Richter, Holger Rode: Zur Genese der Stadt Zeitz – Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme. In: Siegfried Fröhlich (Hrsg.): Archäologische Berichte aus Sachsen-Anhalt 1993. Halle/Saale 1994, S. 185-194.
Schlesinger 1983
Walter Schlesinger: Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter. Band 1: Von den Anfängen kirchlicher Verkündigung bis zum Ende des Investiturstreites. Köln/Wien 1983.